unserhof 1/2014
(aktualisisert 27.5.2021)
„Um die Gegenwart umarmen zu können, müssen wir das Vergangene loslassen“ (Ernst Festl)
Was tun, wenn wir nicht loslassen können?
Der erfahrene Erwachsenenbildner und Mediator für bäuerliche Familien Edi Ulreich hat in jahrzehntelanger Arbeit die vielen Facetten der Menschen, die mit dem Loslassen und dem Annehmenbeschäftigt sind, erfahren und sie begleitet.
Seine Eindrücke hat er für unserhof zusammengefasst:
Viele Bäuerinnen und Bauern, sind fest verwurzelt mit ihrem Besitz. Besonders dann, wenn der Hof als Erbhof von Generation an Generation weitergegeben worden ist. Alles ist ihnen vertraut. Sie haben die Gebäude aufgebaut oder renoviert, Räume eingerichtet, Gärten angelegt und Wälder gerodet oder aufgeforstet. Sie haben Vieles selbst gemacht und es so geschaffen, dass es für sie zweckmäßig war und sie sich wohl fühlen konnten. Sie haben ihre Äcker, Wiesen und Wälder bewirtschaftet und dabei eine tiefe innere Beziehung zu ihrem Besitz und zur Natur aufgebaut. Nun kommt die Zeit, wo sie all das, was sie sich geschaffen haben und wo sie jeden Stein, jedes Gestrüpp, jeden Weg kennen, einen ihrer Kinder übergeben sollen. Wenn sie noch rüstig sind und Arbeiten selber verrichten können, dann ist es besonders schwer die Hände in den Schoß zu legen und nichts oder fast nichts mehr zu tun.
Das Leben war bisher durch Arbeit geprägt. Wer arbeiten konnte, der galt auch etwas. Der eigene Wert war bestimmt durch die Arbeit, die man verrichtet hat. Viel Arbeit, viel Ehr! Es ist auch zur Gewohnheit geworden schon frühmorgens aufzustehen und sein Tagwerk zu beginnen. Sei es im Haus oder bei der Außenwirtschaft, zu tun gab es immer etwas. Selbst der Sonntag wurde genützt um seine Spaziergänge über die eigenen Wiesen, Äcker oder Wälder zu machen und dabei nach dem Rechten zu sehen.
Spätestens dann, wenn die Übergabe geplant wird, stellen sich die bisherigen Besitzer des Hofes viele Fragen, auf die sie kaum Antworten finden.
„Das alles, was mir bisher Sinn im Leben gegeben hat, soll nun auf einmal vorbei sein? Was und wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht mehr arbeiten kann? Werde ich noch gebraucht? Was mache ich den ganzen Tag? Wie werden wir, Jung und Alt, in Zukunft zusammenleben? Darf ich meine Enkerln sehen? Kann ich mit ihnen etwas unternehmen, ihnen etwas beibringen und sie in vielen Kleinigkeiten unter- weisen? Wenn ich pflegebedürftig werde, wer wird mich pflegen? Wo werde ich leben? Muss ich vielleicht in ein Heim gehen?“
Bedenkt man die persönlichen Lebensgeschichten und die Verwurzelung der Bäuerinnen und Bauern mit Grund und Boden, dann ist es verständlich, dass es vielen sehr schwer fällt loszulassen. Sie können und wollen sich nicht auf die Zukunft einstellen, von der sie nicht wissen, wie es nach der Übergabe sein wird. Das Sprichwort „Übergeben nimmer leben“ ist am Lande allen bekannt. Wenn auch viele die Übergabe gut planen und mit den Nachfolgern Vieles abgesprochen und vereinbart werden kann, so ist der Inhalt dieser „Weisheit“ doch immer wieder im Kopf. Die Folge ist, dass sich so mancher Übergeber denkt: „Übergeben wird erst nach meinem Tode, ich arbeite bis ich nicht mehr kann.“
Viele Hofbesitzer übergeben und wollen aber dennoch bei allem und jedem mitreden und mitentscheiden. Vor allem dann, wenn Jung und Alt in nicht klar getrennten Wohneinheiten leben ist es noch schwerer Arbeit, Wohnen und Zusammenleben neu zu regeln.
Loslassen ist nicht nur eine Forderung an die Alten, sondern es betrifft im gleichen Maße auch die Jungen. Auch sie müssen lernen loszulassen!
Festhalten ist die Quelle all unserer Probleme. Da Vergänglichkeit für uns alle schmerzlich ist, klammern wir uns verzweifelt an Dinge. Wir haben Angst intensiv zu leben, weil Leben stetiges, tägliches Loslassen bedeutet. Festhalten aber führt zu dem Schmerz, den wir um jeden Preis vermeiden wollen.“ (Peter Lauster)
Sie sind ebenso in bisherigen Gewohnheiten gefangen. Ihre Eltern und Großeltern haben ihnen vorgegeben, wann, wo und wie etwas zu machen war. Sie haben von ihnen Arbeitsweisen und Einstellungen übernommen oder sich bewusst und oft auch unbewusst gegen die Eltern gestellt.
Loslassen soll aber auch wohl überlegt sein. Nicht alles ist sofort loszulassen. Es ist gut auch darauf zu achten, dass das was losgelassen werden soll, im Augenblick vielleicht die Krücke ist, die das Leben ermöglicht. Was kann man aber wirklich tun, damit sowohl die Alten wie auch die Jungen loslassen können, um ihr Zusammenleben bestmöglich zu gestalten?
Die für mich 5 wichtigsten Verhaltensweisen und Einstellungen, die ein Loslassen erleichtern, sind:
- Das eigene Leben verstehen. Reflektieren, warum ich der bin, der ich bin
- Verständnis und Respekt haben für die Lebensweise der anderen
- Verzeihen lernen
- Urvertrauen wiederentdecken
- Sinn finden für die Gegenwart und für die Zukunft
1. Das eigene Leben verstehen
Warum sich Menschen so und nicht anders verhalten, hat viele Ursachen. Wir sind sowohl von unseren Genen, wie auch von unserer Umwelt beeinflusst. Anlagen stellen die Basis dar und können verkümmern oder entwickelt werden.
Es ist bedeutsam für mein aktuelles Leben zu wissen woher ich komme, und was mich geprägt hat. Die Art und Weise wie wir unsere Kinder- und Jugendjahre in der Familie erlebt haben, hat ebenso einen großen Einfluss auf uns. Entweder verhalten wir uns so, wie wir es gelernt haben und gewohnt sind, oder wir versuchen das Gegenteil in unserem Leben zu tun.
Ein gutes Leben zwischen Alt und Jung setzt zuerst voraus, dass ich über meine eigenen Wünsche, Hoffnungen, Sorgen und Ängste Bescheid weiß, dass ich weiß warum ich so bin wie ich bin. Erst wenn ich mich besser verstehe, kann ich auch den anderen verstehen.
Die Reflexion über sich und sein Verhalten ist nicht so einfach und in vielen bäuerlichen Höfen ungewohnt.
Sie ist aber ein erster wesentlicher Schritt zu einem selbstbestimmten eigenständigen Leben.
Denn wenn ich nur handle und nicht weiß was, wer und welche Ereignisse mich in meinem Verhalten beeinflussen, kann ich auch nicht bewusst leben.
Im Übergabe/Übernahme – Beratungsprozess bieten Einzelgespräche, Aufarbeiten der Familiengeschichte und Betriebs- und Familienaufstellungen eine wertvolle Unterstützung für diesen Entwicklungsschritt.
2. Verständnis und Respekt haben für die Lebensweise der anderen
Wir Menschen sind verschieden. Es gibt keine zwei Menschen, die gleich sind. Wenn wir es manchmal auch gerne so hätten, damit wir den anderen schneller und leichter verstehen können. Wir müssen jedoch immer mit der Tatsache zurechtkommen, dass der andere anders ist.
Das betrifft jeden Einzelnen: Vater, Mutter, Oma, Opa und jedes Kind ist eine eigenständige unverwechselbare Persönlichkeit. In unserer heutigen Zeit, wird die individuelle Entwicklung besonders beachtet. Die Menschen wollen immer weniger abhängig sein. Selbstverantwortung und Selbständigkeit wird besonders von den Jungen in allen Lebenslagen angestrebt.
Ältere Menschen leben anders. Sie haben andere Bedürfnisse und sehen die Welt mit anderen Augen. Es ist notwendig die Unterschiede wahrzunehmen und anzuerkennen.
Ich bin ich – Du bist Du. Wir sind die Jungen, ihr seid die Alten. Respekt ist die Basis unseres gemeinsamen Zusammenlebens.
Das bedeutet, dass Respekt die freundliche Art des Umgangs miteinander ist. Wir sind entgegenkommend und hilfsbereit Man schenkt sich Achtung und schätzt die Person. Mein Gegenüber darf so sein, wie er ist. Seine Ideen, seine Meinung werden ohne sie zu bewerten angehört. Ich verzichte im Miteinander auf Abwehr, Schuldzuweisung, Abwertung und negative Kritik. An Kleinigkeiten ist zu erkennen, dass die Familienmitglieder respektvoll miteinander umgehen. Man lässt den anderen ausreden, schaut ihn beim Reden an, holt vor Entscheidungen seine Meinung ein, und spricht positiv über ihn. Die unterschiedlichen Anschauungen und Lebensweisen werden nicht verurteilt sondern respektiert.
Mit dieser Einstellung fällt es leichter, nicht über den anderen zu urteilen. Es fällt leichter den anderen so sein zu lassen, wie er ist und ihn nicht ständig nach den eigenen Vorstellungen verändern zu wollen.
Es fällt leichter Toleranz nicht nur zu fordern sondern auch selber tolerant zu sein.
3 Verzeihen lernen
Zuerst lieben die Kinder ihre Eltern. Nach einer gewissen Zeit fällen sie ihr Urteil über sie. Und selten, wenn überhaupt, verzeihen sie ihnen.(OskarWilde)
„Wir haben den Betrieb aufgebaut und dabei viele Entbehrungen und Mühen auf uns genommen. Wir haben alles getan, um unser wirtschaftliches Leben und Überleben zu sichern. Zuerst kam der Betrieb und dann erst die Menschen. Die persönlichen Bedürfnisse des Partners und der Kinder mussten hintanstehen.“
Solche Aussagen von Übergebern habe ich bei den Beratungen immer wieder gehört.
Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit stand im Mittelpunkt des Denkens und Handelns. Der Alltag war erfüllt von früh bis spät abends mit Arbeit. Da blieb wenig Zeit für die Befriedigung eigener Bedürfnisse und schon gar nicht für die Bedürfnisse der Anderen. Darüber wurde auch nicht viel gesprochen. Gemeinsame Aktivitäten, Zeit für die Kinder, um mit ihnen etwas gemeinsam zu unternehmen, gab es auch, aber ganz selten. Für viele Bäuerinnen und Bauern war Urlaub ein Fremdwort, etwas das man sich nicht leisten konnte oder wollte.
Bestenfalls gab es einige Minuten am Abend, wenn das Tagwerk voll- bracht war, wo sich die Erwachsenen gemeinsam mit den Kindern an den großen Küchentisch gesetzt haben. Aber auch dabei wurde vorwiegend über wirtschaftliche Angelegenheiten gesprochen. Junge zukünftige Hofübernehmer erzählen mir immer wieder, wie sehr sie sich von Vater und Mutter mehr Zeit gewünscht hätten. Viele Ereignisse und Versäumnisse haben das Zusammenleben in der Familie belastet. Menschen sind keine Engel, sondern sie sind manchmal unberechenbar, launisch und grob. Sie verletzen sich gegenseitig und fügen dem anderen Leid zu. Sie haben aber auch die Fähigkeit zu verzeihen. Wäre das nicht so, dann wäre ein Zusammenleben kaum möglich.
Loslassen bedeutet in diesem Zusammenhang dem anderen sagen zu können „ich verzeihe dir“.
Ich lasse die Enttäuschungen, Verletzungen und viele negative Gedanken los. Wenn es auch weh getan ud traurig gemacht hat, so bedeutet Verzeihen, dass ein neuer Anfang möglich wird.
Letztendlich geht es auch beim Verzeihen um eine Form des Loslassens. Weg von dem, was uns ein anderer angetan hat, hin zu dem, was uns im Leben wirklich wichtig ist.
Viele Ereignisse und Versäumnisse haben das Zusammenleben in der Familie belastet. Menschen sind keine Engel, sondern sie sind manchmal unberechenbar, launisch und grob. Sie verletzen sich gegenseitig und fügen dem anderen Leid zu. Sie haben aber auch die Fähigkeit zu verzeihen. Wäre das nicht so, dann wäre ein Zusammenleben kaum möglich.
Loslassen bedeutet in diesem Zusammenhang dem anderen sagen zu können „ich verzeihe dir“.
Ich lasse die Enttäuschungen, Verletzungen und viele negative Gedanken los. Wenn es auch weh getan ud traurig gemacht hat, so bedeutet Verzeihen, dass ein neuer Anfang möglich wird.
Letztendlich geht es auch beim Verzeihen um eine Form des Loslassens. Weg von dem, was uns ein anderer angetan hat, hin zu dem, was uns im Leben wirklich wichtig ist.
Das ist nicht leicht. Wir können es aber immer wieder versuchen
4. Urvertrauen wiederentdecken
Jeder Mensch erwirbt in der allerersten Lebenszeit die Grundeinstellung, dass er Situationen und Menschen vertrauen könne, oder er erwirbt sie nicht und kann sie dann im späteren Leben nicht mehr nachholen. Dieses Urvertrauen, wie auch das Urmisstrauen, sind entscheidend für die spätere Entwicklung von Beziehungen zu anderen Menschen und für die Charakterbildung.
Urvertrauen ist die Basis für ein erfolgreiches, glückliches, selbstsicheres und zufriedenes Leben.
Urvertrauen kann durch viele negative Ereignisse verloren gegangen sein. Enttäuschungen und Verletzungen haben es manchmal verschüttet, so dass es wieder ausgegraben werden muss. Wenn ich mich erinnere, wie ich mich als Kind auf Menschen verlassen können habe und wie mir Ereignisse und Lebenssituationen Sicherheit gegeben haben, dann kann ich auch auf mein Urvertrauen zurückgreifen. Wenn ich Liebe erfahren habe, kann ich auch diese tief in mir vorhandene Erfahrung wieder wachrufen und Liebe weitergeben. Dann ist es möglich vertrauensvoll loszulassen. Ich brauche nicht an Werten, Erinnerungen und Menschen festhalten, weil ich weiß, dass ich mir ein wirklich zufriedenes Leben immer neu gestalten kann.
Wenn Kinder zurückkommen sollen, dann muss man sie loslassen (Hermann Lahm)
Habe ich dieses Urvertrauen in meiner Kindheit nicht erlebet, dann kann ich es zwar nicht wiedergewinnen, aber ich kann Schritt für Schritt daran arbeiten, dass ich Misstrauen abbaue und mehr und mehr Vertrauen zu mir und meiner Umwelt bekomme.
Um loslassen zu können, benötige ich Vertrauen. Ich kann vertrauen lernen, dass mir Menschen Gutes wollen und dass die Ereignisse in meinem Leben gut ausgehen. Das bedeutet Vergangenes vergangen sein zu lassen, Ausrichten auf die Gegenwart und auf die Zukunft. Die Gewissheit haben, dass Veränderungen auch etwas Positives bringen.
5.Sinn finden für die Gegenwart und für die Zukunft
Wesentlich für die Fähigkeit loslassen zu können ist es nachzuspüren welchen Sinn ich in der augenblicklichen Lebenssituation sehe. Es ist wichtig für die Gegenwart und für die Zukunft etwas zu haben oder zu finden, was Freude macht und wofür es sich lohnt zu leben.
War es früher für die jetzt Alten das fast „rund um die Uhr Arbeiten“, die Verantwortung tragen, Macht haben, Pflicht erfüllen, Bestimmen und Beeinflussen können, so kann das nun ganz etwas anderes sein. Zum Beispiel die Übernahme von Bereichen und Arbeiten, die sonst niemand am Hof machen kann, die Pflege von Ange- hörigen, die Beschäftigung mit den Enkeln, Reisen und andere Hobbys für die nun endlich Zeit zur Verfügung steht und Vieles mehr.
Ich kann jedoch nur dann loslassen, wenn zur gleichen Zeit auch etwas anderes für mich wichtig wird. Das Sprichwort „Übergeben nimmer leben“ stimmt nicht und ist durch ein anderes „Übergeben – neues Leben“ zu ersetzen. Ein jeder Mensch Alt oder Jung hat es selber in der Hand, wie er sein Leben auch nach der Übergabe/ Übernahme gestalten will.
Die Schritte dazu sind:
Zuerst sich selber verstehen und annehmen, dann den anderen verstehen und respektieren. Verzeihen wo es angebracht ist und dann gemeinsam die Art und Weise des Zusammenlebens in der Gegenwart und für die Zukunft entwickeln.
Was du nicht loslassen kannst, lässt dich nicht los (Michael Marie Jung)
Ureich Training und Personalentwicklung KG. Sozialpädagoge, Lebens- und Sozialberater, Unternehmensberater, NLP-Lehrtrainer, Structogramtrainer Eduard Ulreich, A 8052 Graz, Jakob Gschiel Gasse 8,Tel.: 0664 4419 709, e-mail: seminar@ulreich.info – homepage: https://www.ulreich.info
Leiter des Projektes „Zwei Systeme – Eine Welt, Zukunft für bäuerliche Familienbetriebe. Homepage: www. zukunft-bauernhof, e-mail: office@zukunft-bauernhof.at Homepage: www. zukunft-bauernhof.at, e-mail: office@zukunft-bauernhof.at
Ein Gedanke zu „Was tun, wenn wir nicht loslassen können?“
Ich kann sehr gut verstehen, dass es schwer ist, loszulassen. Leider wollte mein Sohn unseren Hof nicht übernehmen. Ich bin nun 68 und körperlich nicht mehr in der Lage, den Hof zu bewirtschaften. Ich habe ihn zum Verkauf angeboten und war von der großen Nachfrage überrascht. Es ist in Espelkamp. So viele junge Menschen hatten Interesse, dass mir die Auswahl schwerfiel. Morgen ist der Termin beim Notar. Ich bin fest davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und habe das Gefühl, dass das, was ich aufgebaut habe, in guten Händen sein wird.